Dr. Anton Rörig (1852 - 1915)

Aus der Dorfmühle zum Pionier und Märtyrer der Wissenschaft


Als "Krülleken-Anton", „Pülverken Tüns“ oder "Pillen-Tünnes" ist ein westfälisches Original weit über die Grenzen des Paderborner Landes bekannt geworden, das in Leiberg als Sohn eines Müllers das Licht der Welt erblickt: Anton Rörig wird im Dezember 1852 in der Leiberger Mühle geboren. Seine Mutter stirbt wenige Tage nach der Geburt ihres ersten Kindes. Er gilt als bedeutender Forscher auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen, - und wird im Alter von 62 Jahren Opfer dieser Forschung. In Leiberg gerät der Name von Dr. Anton Rörig lange Jahre fast in Vergessenheit, während in Paderborn mit dem Dr.-Rörig-Damm gar eine Straße nach dem großen Mediziner aus der Leiberger Mühle benannt worden ist. Heute erinnert auch in Leiberg der Dr.-Rörig-Weg seit 1996 an diesen außergewöhnlichen Menschen. Mindestens ebenso bekannt wie seine Medizinerkunst ist seine urwüchsige, derbe, westfälische Natur. Zahlreiche Anekdotensammlungen ranken sich um die Person Dr. Anton Rörig, der zeitlebens die plattdeutsche Sprache pflegt.

In Leiberg war Anton Rörig - ein Enkel jenes früheren Ortsbeamten Anton Rörig, der 1837 mit der Niederschrift der Leiberger Chronik begann - nur als "Müllers Doktor" bekannt. Der Müllersohn studiert Medizin in Münster und Bonn, promoviert und läßt sich in Paderborn am Kamp als Homöopath nieder. Allerdings können erst Lehrer und Pastor seinen Vater bewegen, den hochbegabten 16-Jährigen zwei Jahre nach Entlassung aus der Volksschule zur Weiterbildung an ein Gymnasium zu schicken. Zuvor arbeitet Anton Rörig zwei Jahre als Müllersbursche in der väterlichen Mühle. Sein gleichnamiger Vater hätte lieber gesehen, daß sein einziger Sohn die Familientradition der Mühle weiterführt.

Im Jahre 1895 entdeckt Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg jene Strahlen, die heute als Röntgenstrahlen bekannt sind: Sie erwecken bei Dr. Anton Rörig eine Forscherleidenschaft, die er später mit dem Leben bezahlt. Oft hören ihn seine Patienten klagen: „Dey Menske is en taugebunnener Sack, wey künnt auk nich rinkeyken“ („der Mensch ist ein zugebundener Sack, wir können auch nicht hineinsehen“). Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen erahnt der weithin bekannte Arzt jedoch eine Möglichkeit, einen schmerzlosen Blick in das Innere des Menschen zu gewinnen und Kranken damit helfen zu können. So schafft Dr. Rörig als erster Mediziner im Paderborner Land und vielleicht auch in Westfalen in seiner Praxis eine Röntgenanlage an. Seine Röntgenaufnahmen sind so exakt, daß sie bei den Fachleuten der Radiologie in Berlin Aufsehen erregen. Im Gartenhaus installiert Dr. Rörig einen Gasmotor, um Strom für seine Röntgenanlagen zu erzeugen (die Stadt Paderborn hatte ihm 1896 eine elektrische Zuleitung verwehrt, so daß der Arzt selbst Strom erzeugen muß).

Dr. Anton Rörig genießt im weiten Paderborner Land einen einzigartigen Ruf. Unbestätigten Meldungen zufolge soll sich selbst der letzte russische Zar Nikolaus 11. - inkognito - in die medizinische Betreuung des Leiberger Dorfmüllersohns begeben haben. Eines erkennt Dr. Rörig allerdings nicht: Die Gefährlichkeit der Röntgenstrahlung. Schmerzen, die sich zuerst im rechten Daumen bemerkbar machen, greifen auf den rechten Arm und schließlich auf den ganzen Körper über. Dr. Rörig ist an den Röntgenstrahlen innerlich verbrannt. Er stirbt am 9. März 1915.

Erst 44 Jahre nach seinem Tod wird dem Leiberger posthum durch einen Beschluß des Internationalen Kongresses für Radiologen in München 1959 eine außerordentliche Ehrung zuteil: Der Name des an den Folgen seiner Forschertätigkeit auf Röntgenologischem Gebiet verstorbenen Arztes wird auf Initiative Paderborner Heimatfreunde auf dem Gedenkstein für Röntgenopfer auf dem Gelände des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg in Hamburg eingemeißelt. Gleichzeitig erscheint sein Name im "Ehrenbuch der Röntgenologen aller Nationen" .

Diese hohen Ehren sind dem Leiberger Mediziner allerdings nicht allein zugekommen: Auch sein treuer Weggefährte, Diener, Laborant und Kutscher Heinrich Sprenger ist in dieser Ehrenliste und auf dem Gedenkstein der „Röntgenmärtyrer“ verzeichnet. Heinrich Sprenger wird am 7. Dezember 1861 ebenfalls in Leiberg geboren und stammt aus „Kaisers Haus“ in einstiger Nachbarschaft der Leiberger Mühle. Als Kutscher und Diener begleitet sein "Famulus" Hinnerk Anton Rörig nach Paderborn und wird in der Domstadt Laborant. Im Paderborner Stadtarchiv ist nachzulesen, daß Heinrich Sprenger in Leiberg zunächst die heimatliche Volksschule besucht, um anschließend als Landwirt auf dem elterlichen Hof tätig zu sein. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ist Sprenger drei Jahre Soldat bei der Garde: Später tritt Sprenger als Kutscher und Laborant in den Dienst von Dr. Anton Rörig in Paderborn. Zu seinen Tätigkeiten gehört auch die Hilfe bei Röntgendurchleuchtungen und Aufnahmen: Dies soll auch dem treuen Helfer (ebenso wie seinem Meister) zum Verhängnis werden. Auch Sprenger stirbt 1922 an Krebs infolge der Röntgenverbrennungen. Schutzvorrichtungen wie in heutiger Zeit gab es eben noch nicht. Im Röntgenmuseum stehen er und Dr. Rörig auf der Ehrentafel.

Dr. Anton Rörig und Heinrich Sprenger: Die beiden Leiberger gelten noch heute in Paderborn als Originale. Rörig duzte alle Patienten und sprach nur plattdeutsch. Viele Anekdoten sind schriftlich und mündlich über ihn im Umlauf. Seine flinken und rassigen Pferde und die alte Kutsche waren in der Stadt und im Umkreis bekannt. Im ausdrucksvollen Leiberger Platt sagte er allen Patienten derb und oft ungeschminkt die Wahrheit. Besonders bei "eingebildeten Vornehmen" konnte der Doktor aus Leiberg durchaus rabiat werden. Doch bei aller Roheit und Grobheit galt "Müllers Doktor" als Wohltäter der Menschheit, der die Sprache des einfachen Volkes sprach, - und verstand. Nicht zufällig ziert sein Grabmal auf dem Paderborner Ostfriedhof das Bild des Heiligen Martins, der den Mantel teilt.

Leiberg, im Frühjahr 1998